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Freitag, 3. Oktober 2008

Andreas von Bülow zum 9/11 am 09.11.2003



 

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George W. Bush - Nehmen Sie die embryonale Stellung ein!


Von Frank Schirrmacher

George W. Bush: Verfassungs-Vokabular als Mittel einer undurchschaubaren Herrschaftspraxis 03. Oktober 2008 Vielleicht ist das Schlimmste nicht das, was George W. Bush uns genommen hat, sondern das, was er uns gegeben hat. All die Abschiede von ihm, von Washington, von Amerika sind nichts anderes als ratlos hinausgezögerte Verluste unserer Illusionen. Und sind selbst eine Illusion. Denn das Entscheidende, das er uns hinterlässt, kann man nicht loswerden. Bush hat die Demokratien begrifflich versklavt, indem er ihr Verfassungs-Vokabular von der Freiheit bis zur Menschenwürde als Mittel seiner undurchschaubaren Herrschaftspraxis benutzte. Abschiede von der Treue zu den Vereinigten Staaten, ihren Apotheosen des Wohlstands und ihrer Macht, wie es in allen Zeitungen steht? Wir haben dafür etwas bekommen, von dem wir uns nicht mehr verabschieden können: die beschämende Erfahrung der tiefen Untreue gegen uns selbst, das überwältigende Erlebnis der Ohnmacht, eine Identitätsverschiebung, wie sie die Annalen freier Gesellschaften nicht kennen.

Beim letzten seiner stundenlangen Gespräche mit Bush machte Bob Woodward vor acht Monaten eine neue Beobachtung. Der Präsident, der seine Geschichte erzählen will, beginnt seine Geschichte zu vergessen. Ständig behauptet er im Laufe dieser Unterhaltung, sich an irgendwelche Einzelheiten nicht mehr erinnern zu können. „Seien Sie ganz sicher, ich sitze nicht hinter dem Schreibtisch und bin ständig vom Irak überwältigt. Ein Präsident muss eine ganze Menge anderer Dinge tun“, sagt Bush.

Bush zwang die Welt, sein Gedächtnis zu fürchten

Bush, sagt Woodward, habe keine Chance mehr gesehen, die Geschichte durch Handeln noch zu wenden. „Eine ganz Menge anderer Dinge tun“, außer dem einen, das zählt – das ist nichts anderes als das Bekenntnis des vollkommenen Scheiterns.

Zum Thema

FAZ.NET-Sonderseite: Präsidentenwahl in Amerika Bush macht aus dem Übereinander der Gesichtspunkte, mit dem er der Welt einst eine Politik unbezweifelbarer Prioritäten vorspiegelte, ein Nacheinander. Und er hofft, wie wohl kaum ein anderer westlicher Politiker der Nachkriegszeit je hoffte, dass man seine Geschichte nicht ihrem Sinn und ihrem Ende nach erzählen wird, sondern nach dem Terminkalender. Er hat eine ganze Menge anderer Dinge zu tun: Bahnhofseinweihung, G8-Gipfel, Blumenausstellung, Kriegserklärung, Steuersenkung, Zerstörung der Verfassung, Jahrestag der Pfadfinder – es ist das verzweifelte Verlangen nach Geschichtsschreibung aus der Kammerdienerperspektive, es ist alles eines, erhöht und gleichzeitig entwertet. Und dadurch vergessen. Wie jenes Gespräch mit einer engen Beraterin im Sommer 2006, die auf seine Frage: „Was hören Sie aus dem Irak? Wie ist jetzt das Leben der Menschen in Bagdad?“ lakonisch antwortete: „Es ist die Hölle, Mr. President.“

Jahrelang hat Bush eine ganze Welt gezwungen, in seinem Kopf zu weilen, jede seiner Absichten zu deuten, sich seine persönliche Logik einzubleuen, seine Ratschlüsse zu fliehen und sein Gedächtnis zu fürchten, weil es, eigenem Eingeständnis zufolge, ein Gedächtnis war, das keine Kränkung je vergaß. Er schien ein Fall für den Jugendpsychologen zu sein; und war es wohl auch für seine Mitarbeiter, wenn er wichtige Konferenzen barsch mit der Bemerkung abbrach, er habe „noch andere Rodeos“ zu reiten.

Bush im Weißen Haus: Aufgetürmtes Angstsystem der Bedrohung von außen Was es aber hieß, endemisch als Zeitgenosse in den Denkapparat dieser Präsidentschaft gezwungen zu werden, haben als erste die Bewohner der tiefsten Tiefen bemerkt, jene literarisch-geistigen Wesen, die mit ihrem eigenen Leuchten die Nacht aufhellen. Zur gleichen Stunde, da George Bush die Welt mit den Worten Demokratie, Freiheit und Selbstverteidigung in seine Gedankengänge zog und gleichzeitig ein gedankenpolizeiliches Überwachungssystem im Inneren etablierte, das keine Bibliothek und kein Labor auslässt, prophezeite der Schriftsteller John Berger eine Umerziehung zur Angst, einen vegetativen Zustand, in dem der Körper schon weiß, was der Kopf noch nicht einmal ahnt: „Der Schmerz, in der gegenwärtigen Welt zu leben“. Berger beschrieb präzise, worin das Wesen der Macht dieser Regierung bestand: „Jenseits der Ideologie basiert ihre Macht auf zwei Drohungen. Die erste ist die Intervention aus dem Himmel durch den am stärksten bewaffneten Staat der Erde. Man kann es Drohung B52 nennen. Die zweite ist rücksichtlose Verschuldung, Bereitschaft zum Bankrott, und, angesichts der Wirtschaftsbeziehungen in der Welt, dadurch ausgelöste Verarmung und Hunger. Man kann diese Drohung ,Drohung Null‘ nennen.“

Bush hat, mit erborgten Idealen, die Ideale deklassiert

Wir sind jetzt in die Phase der Null eingetreten. Sie ist im Begriff, zu einem historischen Ereignis zu werden. Die Multiplikation mit null ist die Rechenoperation, die dieser Präsident hinterlässt. Das Problem ist nur, dass sie nicht auf ihn beschränkt bleibt. Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken. Bush hat Freiheit, Demokratie, Wohlstand mit null multipliziert, er hat, mit erborgten Idealen, die Ideale deklassiert.

Bush hinterlässt eine verstörte Welt, die hofft, dass ein Obama reicht, die Wunden zu heilen „Es gab noch niemals eine eine vergleichbare Kernschmelze präsidentielller Führung. Es ist ein schrecklicher, gefährlicher Verlust, denn die ganze Welt sieht zu.“ Das schrieb vorgestern Ronald Reagans frühere Chef-Redenschreiberin Peggy Noonan im „Wall Street Journal“. Und während, wie zum Zeichen dieser Implosion, der amerikanische Finanzminister vor den Abgeordneten seines Landes buchstäblich auf die Knie fiel und der Präsident über die Krise „wie ein Kommentator, nicht wie ein Staatsmann“ sprach (Noonan), weiß die zusehende Welt, dass die, die sich als Heiler ausgeben, die Verursacher der Krankheit sind. Jetzt würden „Abgeordnete, die nicht einmal ihr eigenes Konto in Ordnung halten können“, über die Zukunft der Weltwirtschaft entscheiden, schrieb Thomas L. Friedman in einem dramatischen Appell in der „New York Times“: „Ich hatte bisher nur ein paar Mal Angst um mein Land: 1962, als ich als neunjähriger Junge die Spannungen der Kuba-Krise erlebte, 1963 bei der Ermordung von J.F.K., am 11.September und am Montag, als das Repräsentantenhaus den Rettungsplan stoppte. Aber dieser Tag ist der furchterregendste von allen. Alle vorhergehenden waren Angriffe von außen. Jetzt machen wir es selbst.“

Angriff aus dem Inneren

Die westlichen Gesellschaften haben mit allem gerechnet, aber nicht mit diesem Angriff aus dem Inneren. Er ist geradezu unglaublich umfassend, beginnend mit den rhetorischen Vorbereitungen zum Krieg gegen den Irak, über die Klimapolitik, den Angriff auf die Verfassung, die alle geistigen und wissenschaftlichen Bereiche erfassenden Überwachungssysteme bis zur Implosion des Finanzsystems. Das riesig aufgetürmte Angstsystem der Bedrohung von außen entpuppt sich als Affektverschiebung der Angst vor dem Innersten, die Kriegserklärung an den Terrorismus hat längst Züge einer Kampfansage an das überlieferte europäische Menschenbild.

Patriot Bush: Niemals zuvor gab es eine vergleichbare Kernschmelze präsidentieller Führung Dieser Präsident hinterlässt sämtliche Demokratien der Welt in einem zutiefst traumatisierten Zustand, und man fragt sich, welcher Person oder welchem Ereignis dies in den letzten sechzig Jahren gelungen wäre, ja, ob es überhaupt außerhalb der Demokratien jemals hätte gelingen können. Anders als China, Russland und der Bin-Ladin-Terrorismus, die allesamt von der Herrschaft Bushs profitierten, sind die Demokratien in Bush stets den „zwei Körpern des Königs“ begegnet; er war Bush, aber er war auch immer der Repräsentant der Idee von Freiheit und Demokratie. Er hat ihnen diese Pietät vor dem Bestehenden genommen. Und während er nahm, gab er etwas zurück: Misstrauen gegen andere und sich selbst, Verständnislosigkeit vor fremdem Recht und fremdem Glück, Inkompetenz als politische Variante einer Willkürpolitik.

Moralischer Ruin

Besonders in Deutschland, mit seiner historisch gewordenen Dankbarkeit gegenüber den Befreiern von 1945, wird sich erst nach seinem Abgang das ganze Ausmaß des moralischen Ruins zeigen. Es gab viele, und viele kluge Leute, die ihm glaubten und eine ganze Weile folgten, als er mit dem Hinweis auf Massenvernichtungswaffen und der Assoziation zum Dritten Reich seine Politik gegenüber dem Irak begründete. Während sich jetzt linksintellektuelle Milieus in den Katastrophen der bestehenden Ordnung bestätigt fühlen können und daraus Folgen für den Geschichtsverlauf ableiten, hat das deutsche Nachkriegsbürgertum, das sich in den großen Volksparteien sammelte, keine Utopie entwickelt, die nennenswert über den amerikanischen Traum und das Urvertrauen in dessen demokratische Garantien hinausginge. Der Entzug dieses Fluchtpunkts ist, wie man an China und Russland sieht, keineswegs das Ende des Kapitalismus. Es droht vielmehr die dauerhafte Spaltung und Regression von Demokratie und Kapitalismus, ein Bruch, der in Bushs Missbrauch der politischen Freiheitsrhetorik seinen Anfang nahm. Das wird im schlimmsten Fall nicht mehr die Welt jener westlichen Kosmopoliten sein, deren freiheitliche Grundhaltung zu dem Besten zählt, was moderne Gesellschaften hervorgebracht haben. Ihnen rät Friedmann ohne jede Ironie: „Nehmen Sie die embryonale Stellung ein!“

Bush beginnt zu vergessen. Und eine verstörte Welt hofft, dass ein Obama reicht, die Wunden zu heilen. Doch wenn sie nicht begreift, welche Wunden sie sich selbst geschlagen hat, wird sie nicht mehr vorstoßen zu dem optimistischen, glücksbereiten und am Ende sogar liebenden Ich, das embryonal im innersten Kern unserer demokratischen und gesellschaftlichen Ideale schlummert. „In den sich ständig wiederholenden Reden, Erklärungen, Pressekonferenzen und Drohungen“, schreibt John Berger, „sind die immer wiederkehrenden Begriffe Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Terrorismus. Jedes dieser Wort bedeutet in seinem Kontext exakt das Gegenteil, was es einst bedeutete. Jedes ist getrafficked worden, jedes ist ein Mafia-Wort geworden, das der Menschheit gestohlen worden ist.“ Aber Bush hat nicht nur genommen, er hat gegeben. Eine veränderte Verfassungswirklichkeit, eine deformierte Freiheit und ein zerstörtes Glück. Vorgestern kündigten die Unternehmer aus dem Silicon Valley in der „New York Times“ aufgrund der Finanzkrise das vorläufige „Ende der Ideen“ an. Vielleicht ist dieser letzte, gleichsam materialistische Ruin der Ideale der Endpunkt. Bush mulipliziert uns mit null. Die europäischen Gesellschaften müssen wieder mühsam lernen, eins und eins zusammenzählen, um neu beginnen zu können.


 

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