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Britische Medien - Was haben wir bloß falsch gemacht?


Von Henning Hoff

Nick Davies Abrechnung mit britischem Qualitätsjournalismus

  1. Februar 2008 In seinem Reporterleben hat Nick Davies schon einige hässliche Dinge aus der Nähe betrachtet und sie in Buchform gegossen, von rassistisch motivierten Fehlurteilen im US-Bundesstaat Texas über Armut in Großbritannien bis hin zur Frage, warum eine Krankenschwester 1991 vier Kleinkinder in ihrer Obhut umbrachte. Nun hat Davies, der als Sonderkorrespondent der linksliberalen Tageszeitung „The Guardian“ arbeitet, die eigene Zunft ins Visier genommen. Das ist auch kein schöner Anblick.

„Flat Earth News“ heißt sein fast 400-seitiges Werk, das am Donnerstag in Großbritannien erschienen ist. „Ich war gezwungen, mir einzugestehen, dass ich in einer korrumpierten Profession arbeite“, lautet Davies’ Fazit. Er sehe in der Qualitätspresse – aber auch im Rundfunk – Nachrichten, die vom gleichen Kaliber seien wie die, dass die Erde eine Scheibe sei. Das liege vor allem daran, dass Redakteure und Reporter keine Zeit mehr für Recherchen hätten.

Gefangen in „Nachrichtenfabriken“

Die Journalisten seien im „professionellen Käfig“ ihrer „Nachrichtenfabriken“ gefangen und zu „Churnalisten“ verkommen (nach „to churn out“: auswerfen). Sie schrieben Pressemitteilungen oder Agenturmeldungen nur noch schnell um, ohne selbst nachzuforschen. Dieser Zustand mache die Massenmedien äußerst anfällig für die Verbreitung von Falschmeldungen, irreführenden Legenden und Propaganda. Dass die Einflussnahme von Zeitungsbesitzern oder der Druck von Anzeigenkunden die Berichterstattung verfälschten, sei demgegenüber zu vernachlässigen.

Davies nennt Zahlen. Eigens für „Flat Earth News“ prüfte das Medieninstitut der Universität von Cardiff im Frühjahr 2006 über zweitausend Berichte aus Großbritanniens seriösen Blättern „Daily Telegraph“, „The Times“, „The Guardian“ und „The Independent“ sowie der konservativen Boulevardzeitung „Daily Mail“. Sechzig Prozent bestanden ausschließlich oder hauptsächlich aus PR-Material oder Berichten von Nachrichtenagenturen, die aber nur bei zwei Prozent als Quelle angegeben worden waren. Weitere zwanzig Prozent der Artikel waren lediglich mit wenigen Informationen angereichert. Nur zwölf Prozent der Texte ließen auf eigene Recherchen schließen.

Kommerzielle vor journalistischer Logik

„Das Grundproblem ist, dass eine kommerzielle Logik die journalistische abgelöst hat“, sagt Davies, für den die Berichte über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen im Vorfeld des Irakkriegs den Anstoß für sein Buch gegeben hatten. „Als sich die ganze Geschichte als falsch herausstellte, zeigten die Medien nur mit dem Finger auf Regierung und Geheimdienste. Ich fand das irritierend. Warum war uns das passiert, was hatten wir falsch gemacht?“

„Flat Earth News“ ist zum großen Rundumschlag geraten, der längst nicht nur britische Medien trifft. Davies beschäftigt sich unter anderem mit den Geschichten über den „Millennium Bug“, mit dem löchrigen Netz der Nachrichtenagenturen, mit dem vom US-Militär in einer „Medienoperation“als Al-Qaida-Überterroristen aufgebauten Abu Musab al Zarqawi und mit der Praxis britischer Zeitungen, routinemäßig Privatdetektiven mit illegalen Aufträgen zu beschäftigen. Letzteres hat der britische Datenschutzbeauftragte Richard Thomas aufgedeckt, fast die ganze Presse ist darin verwickelt. Bei den meisten der ans Licht gekommenen Fälle geht es um nichts Brisantes, sondern darum, möglichst billig an kleine Klatschgeschichten zu kommen.

Die Angegriffenen loben den Kritiker

Davies trifft die britischen Medien in einem Moment, wo sich die Zeitungsindustrie trotz sinkender Auflagen und Millionenverlusten bei vielen Qualitätsblättern insgesamt breitbrüstig gibt, während einzelne Journalisten immer öfter zu selbstkritischer Reflexion neigen. Für viele ist die Reaktion von John Mullin typisch, der kürzlich die Leitung des nur noch als Rumpfblatt existierenden „Independent on Sunday“ übernahm. Davies’ Diagnose enthalte zwar „ein Körnchen Wahrheit“, urteilte Mullin, wischte die Kritik aber mit dem Verweis weg, britischer Journalismus sei „der beste der Welt“.

Erste Besprechungen fallen dagegen überwiegend positiv aus, selbst in hart angegangenen Zeitungen wie dem liberalen Sonntagsblatt „The Observer“. Dem wirft Davies unter anderem politische Naivität und zu große Nähe zum Pressesprecher des ehemaligen Premierministers Tony Blair vor, so dass die Zeitung in der Vorphase des Irakkriegs zur Propagandapostille mutiert sei. „Ein schockierendes Buch und ein Aufruf zum Handeln“, schrieb Kolumnist Peter Oborne im konservativen Magazin „The Spectator“. Angesprochen fühlen müssen sich aber auch nichtbritische Medien, die die britische Presse mit Vorliebe als Selbstbedienungsladen nutzen.

Er kennt die Diagnose, nicht die Therapie

Ganz neu ist Davies’ Befund nicht. Die Briten leisten sich eine nicht einmal schlechte Medienberichterstattung. Aber dabei geht es, lässt man das Satire- und Enthüllungsblatt „Private Eye“ beiseite, selten ans Eingemachte. Was die Wirkung seines Buchs und die Zukunft des Journalismus angeht, ist Davies äußerst pessimistisch: „Ich fürchte, ich beschreibe nur den Tumor, der uns umbringt, ohne eine Therapie anbieten zu können.“

So bleibt die vage Hoffnung auf Selbstreinigungskräfte, doch die waren in der britischen Presse schon immer schwach ausgebildet. Bezeichnenderweise sorgte „Flat Earth News“ schon vor Wochen für Aufruhr, als bekannt wurde, dass der „Observer“-Chefredakteur Roger Alton aus dem Amt scheiden werde. Alan Rusbridger, Chef des „Guardian“ und Geschäftsführer der Guardian Media Group, zu der auch der „Observer“ gehört, habe Davies beauftragt, das Buch zu schreiben, um Alton loszuwerden, hieß es in einigen Zeitungen. „Das ist vollkommen falsch“, sagt Davies, der über die Ironie des Ganzen den Kopf schüttelt: „Da schreibe ich ein Buch über Unwahrheiten in den Medien, und das Erste, was darüber berichtet wird, ist genau das.“

Text: F.A.Z.


 

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Schriftsteller, die ich mit Hochgenuss reinzog


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John Irving

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Sizilianische Familienbande


Leonardo La Rosa, *1960; lebt als Literaturagent, freier Journalist und Autor in Zürich. Diverse Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien.

Leonardo La Rosa

Sizilianische Familienbande

«Wir müssen alles ändern, damit sich nichts ändert.» Tancredi in «Der Leopard» von Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Dazugehören: Aus Angola, aus Albanien, dem Kongo, Afghanistan, Kroatien, aus Bangladesh, Ghana, Mazedonien und Brasilien standen sie eng gedrängt zwischen metallenen Gittern, geduldig oder mit leeren Gesichtern, mitunter leise lachend, doch vor allem schicksalsergeben, schoben sie sich Schritt um Schritt durch den Gitterslalom vorwärts - vielleicht würden sie es an diesem Tag bis zur Sicherheitsschleuse schaffen, vielleicht aber auch vergeblich drei Stunden Schlange gestanden haben. Wir hingegen schlenderten mit einem verschwörerischen Grinsen am Sicherheitsbeamten vorbei, der uns die Schleuse aufhielt, als ob alle sehen sollten, wem sie gelte und wem nicht. Mein Bruder voran mit der Legitimation von Armani und Nokia, gewappnet mit dem gespielten verlegenen Lächeln dessen, der etwas erbittet, von dem er weiß, es steht ihm zu wie alles andere. Ich folgte mit aller Selbstverständlichkeit, die ich aufbringen konnte, in seinem Windschatten begleitet von den weder erstaunten noch offen neidischen Blicken derer, die in der Weltschlange ein paar Plätze weiter hinten geboren wurden. Prego. Man bat uns Stühle an, keinen Kaffee, aber immerhin Stühle, während sie draußen in der Novemberluft standen, immer wieder die Papiere überfliegend, die sie in den Händen hielten, als könnte etwas Entscheidendes darauf ins Nichts verschwinden, wenn sie nicht Acht gäben.

Im Kreis gehen: Es glich der mühseligen Fortbewegung in einem Traum: schnell möchte man laufen, doch die Beine scheinen wie ineinander geflochten, oder der Boden unter den Füßen sinkt weg und steigt zugleich bis zu den Schenkeln hoch. Die Euphorie des Sonderwegs, die der erste Tag auf dem Weg zur italienischen Staatsange-hörigkeit versprochen hatte, war rasch verflogen. Freundliche Behinderung von allen Seiten, Formulare, die scheinbar erfunden wurden, sobald wir glaubten, alle beisammen zu haben, mussten ausgefüllt und persönlich überbracht werden. Beglaubigungen, die Beglaubigungen beglaubigten, waren beizubringen, Übersetzungen sowieso - und dennoch erlebten wir immer wieder Anflüge von Euphorie, wenn wir glaubten, am Ziel zu sein, bis es hinter einem weiteren Formular wieder verschwand wie ein loser Zettel in einem riesigen Aktenberg. Dann der klare Frühlingsmorgen, in den jene Juristin mit einem versonnen Lächeln blinzelte, als sie uns sagte, unser Verhältnis dem Staat gegenüber sei längst schweizerisch geprägt, von der Vorstellung somit, der Staat diene dem Bürger. In Italien aber erweise der Staat dem Bürger eine Gnade, wenn er ihm einen Dienst leistet. So lägen die Dinge, und im Übrigen hätten wir unsere originalen italienischen Geburtsurkunden beizubringen, das verstünde sich ja von selbst, wenn wir wirklich Italiener zu sein glaubten.

Eintauchen: Es war nicht zu erkennen, ob der Mann, der mich be-grüßte, ein Beamter war oder der Hausmeister oder einer, der sich zufällig in den Räumen der Gemeindeverwaltung des sizilianischen Dorfes befand. Certificato di nascita, wiederholte er, als würde sich durch das erneute Aussprechen des Wortes ihm erst dessen geheimnisvoller Sinn eröffnen. Er machte eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf und verschwand durch eine seitliche Türe. Es dauerte zehn Minuten, bis ich begriff, dass er nicht zurückkommen würde, sondern einfach gegangen war - was ging ihn mein Certificato auch an. Die Frau, auf die ich drei Türen weiter stieß, stellte seufzend ihren Kaffee ab und fragte mich nach meinem Geburtsdatum. Ich nannte es ihr, worauf sie eine Weile sitzen blieb und den grünen Bildschirm vor sich betrachtete, der aus den ersten Tagen der Informatik überlebt hatte. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihn anschalten, lehnte sich dann zurück und kniff nachdenklich die Augen zusammen, bevor sich ihr Gesicht erhellte, als hätte sie eben ein großes Rätsel gelöst, und sie mich in den zweiten Stock verwies. Dort begegnete ich niemandem, doch der Raum, der mit «Einwohnermeldeamt» beschriftet war, stand offen. Ich versuchte, herauszufinden, woran mich der Geruch erinnerte, der mir aufgefallen war, sobald ich eingetreten war. Ich schnupperte mehrmals, dann fiel es mir wieder ein: es war der gleiche Geruch wie der in dem dunklen Raum neben der Kirche, in dem die Votivbilder ausgestellt wurden: feuchtes Papier, kalter Rauch und etwas nur ganz leicht Riechbares, Rattenköttel vielleicht. Dieser Raum jedoch war hell und ohne jedes Geheimnis außer den überformatigen Bänden, die die Regale an den Wänden ausfüllten. Auch der neueste sah aus, als hätten noch bourbonische Beamte darin Geburten und Tode vermerkt. Ich blätterte und las drei, vier Jahrgänge durch. Zweimal stieß ich auf Namen, die man mit sehr viel gutem Willen für eine falsche Transkription der unsrigen hätte halten können. Ich las sie nochmals: wenn, dann konnten es nur diese sein. Ich legte Zettel zwischen die jeweiligen Seiten und machte mich auf die Suche nach einem Beamten. Außer dem Gemeindepolizisten, der über einer Zeitung eingenickt war, fand ich zunächst niemanden. Schließlich stieß ich auf eine junge Frau, die mir bedeutete, morgen wieder zu kommen, die Dienstzeiten seien vorbei. So, ich reise am nächsten Tag ab, wiederholte ich gleichgültig. Pech, ich hätte eben früher kommen sollen.

Dazugehören II: Ein Jahr später war eine stille Revolution im Dorf vor sich gegangen. Die alten Seilschaften der Dons, der persone per bene und Ehrenmänner waren im Stillen zerrissen. Die Erschütterungen im ganzen Land hatten auch die Fassaden der Dorfnotabeln abbröckeln lassen, und der Ersatz hatte sich noch nicht richtig etabliert. Junge Leute, die es satt hatten, die Arbeitsplätze immer nur von den unfähigsten Kandidaten mit den besten Beziehungen besetzt zu sehen, begehrten auf, Menschen, die weit gereist waren und begriffen hatten, dass die Dinge nicht naturgegeben so liegen mussten, wie sie bei ihnen lagen, hatten in einem demokratischen Streich die Macht im Dorf an sich gerissen. Die Straßenkehrer, von denen es in dem kleinen Dorf fast ein Dutzend gab, kehrten plötzlich die Straßen, der Dorfpolizist verteilte zuweilen gar Strafzettel, und die Renovation der Oberstufenschule wurde öffentlich ausgeschrieben und nicht unter der Hand verschachert. Ein Cousin von mir nahm Einsitz in der Gemeinderegierung, wobei schwer zu sagen war, worin seine Aufgabe eigentlich bestand. Soweit ich folgen konnte, befasste er sich mit der Verwaltung der Administration. Oder umgekehrt. Ich dachte wieder an meine Geburtsurkunde und sprach ihn mit einem Anflug von schlechtem Gewissen darauf an; hatte nicht die Bürgerliste, zu der er gehörte, lauthals verkündet, dass nun alle gleich sein würden vor dem Gesetz, dass die Ämter im Dienst des Bürgers zu stehen hätten, und dass die conoscenze, die unverzichtbaren Bekanntschaften, künftig keine Rolle mehr spielen würden. Gleichviel, tags darauf hatte ich sie in der Hand, beglaubigt, mit Stempeln und dem ganzen Dekor eines italienischen Amtschreibens versehen: die Anerkennung meiner Existenz durch die italienische Republik. Ich schaute meinen Cousin ungläubig und etwas spöttisch an. Er zuckte mit den Achseln und meinte: Schnell und effizient wie in der Schweiz, was willst du mehr.


 

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